Auf Gottes Pfad
Wallfahrt: Fast 50
Kilometer misst die Etappe auf dem Jakobsweg von Esslingen nach
Tübingen. Unser Reporter Ulrich Stolte hat die Strecke an einem Tag
bewältigt. [übernommen aus der Stuttgarter Zeitung]
Leben
ist gehen, sagt man, aber wenn dem so wäre, dann würden die Bäume nicht
leben. Sie schauen auf mich herunter: einen Pilger mit Kniebundhose,
Hut, schwarzer Umhängtasche, Wasserflasche, sechs alten Wecken und zwei
Wurstdosen für je 99 Cent vom Bahnhofskiosk.
49 Kilometer geht der
Jakobsweg von Esslingen nach Tübingen. Eine Tagesreise, wie sie normal
wäre auf dem Pilgerpfad quer durch Europa nach Santiago de Compostela in
Nordspanien. Dorthin sind seit dem 14. Jahrhundert Christen unterwegs,
um am Grab des Heiligen Jakobus auf die Vergebung der Sünden zu hoffen.
Eine
Reise beginnt mit einem Schritt, sagt man, und einen Schritt von der B
10 entfernt beginnt der Dschungel, das Unbekannte. Der Jakobsweg führt
in Esslingen am Nordufer des Neckars über verwitterte Treppenstufen,
umgestürzte Bäume: ein grüner Teppich aus Frühjahrskräutern, die Vögel
zwitschern und von unten donnert der Verkehr auf der vierspurigen
Straße.
Weist den Weg: Die Jakobsmuschel, hier in Rüdesheim. (Bild: Wikipedia)
Der
Weg ist das Ziel, sagt man, aber das ist falsch: Der Weg ist der Weg,
und das Ziel ist Berkheim, ein Esslinger Stadtteil. Der Wind treibt mich
durch Obstgärten, die Menschen grüßen, ahnen wohl, dass ich im Namen
des Herrn unterwegs bin wie die Blues Brothers, nur ohne Brüder, aber
dafür mit dem Blues. Dunkelblaue Regenwolken ziehen auf. »Schreibe nicht
über das Wetter«, lautet eine journalistische Grundregel, was aber soll
man machen, wenn einen der Regen unter das Portal der katholischen
Kirche in Berkheim treibt? Es stürmt so sehr, dass ich die Kapuze des
Regenumhangs mit der Hand festhalten muss, als ich nach Denkendorf
wallfahre.
Im Mittleren Neckartal ziehen die Gewitter meist von
Westen auf, was die östlich der Landeshauptstadt wohnende Bürgerschaft
stets zu politischen Kommentaren ermuntert hat. »Emmer kommt's dick von
Stuttgart«, grollten die alten Leute und fluchten dann: »Heida
Stuargart!«
Der Regen bringt Kälte, die Katzen jagen nicht mehr in
den Vorgärten, sondern sitzen unter den Gartenhäuschen. In Denkendorf
wähle ich mir einen Carport zum Unterstand, warte, bis keine
Regenkrönchen mehr in den Pfützen zu sehen sind, und trotte steil bergab
in die Denkendorfer Ortsmitte hinein. In den Bushaltestellen drängen
sich Schüler, vergraben sich in Schirme und Kapuzen oder trotzen wie
Freibeuter mit nassem Kopf der Kälte. Der Schlecker hat gerade
aufgemacht. Ob man dem lieben Gott für einen Schlecker danken kann?
Kaufe einen hübschen blauen Regenschirm und Süßigkeiten: Haribo macht
Pilger froh.
Die romanische Denkendorfer Klosterkirche steht auf
einem kleinen Hügel. Die Mauern der Basilika schneiden den
allgegenwärtigen Straßenlärm ab, endlich. Die Kirche vertreibt sich die
Zeit damit, das Gebälk knacken zu lassen. Ob der Verzehr von Süßspeisen
hier erlaubt ist? Ich lasse die Pilgertasche zu. Schon merke ich, wie
der Weg den Menschen bessert: Mit dem Regenschirm vom Schlecker komme
ich nicht mehr in Versuchung, einen Schirm aus der Kirchengarderobe zu
stehlen.
In der Krypta, so erklärt der Reiseführer, stehe eine
Nachbildung des Heiligen Grabes von Jerusalem. Dort sieht es aus wie im
Stuhllager einer Brauerei. Der Mann, der erfolgreich verbreitet hat,
diese finstere Sickergrube aus Backsteinen sei die Nachbildung des
Heiligen Grabes, dürfte selbst hartgesottene Marketingleute vor Neid
erblassen lassen. Es war anscheinend ein gewisser Berthold von
Denkendorf. Ein angestaubter Gebetsgarten, der inmitten nackter Steine
steht, lädt zum Nachdenken ein. Ich zünde eine Kerze an.
Vielleicht
rechnet man auf solchen Touren nicht mit Regen, weil auf den
Werbebroschüren der Himmel immer blau ist. Das grüne Heftchen über den
Jakobsweg haben der Tübinger und der Esslinger Landrat im Frühjahr auf
der CMT in Stuttgart präsentiert, als sie den Lückenschluss der letzten
Etappe des Jakobsweges von Rothenburg ob der Tauber nach Rottenburg
feierten.
Eigentlich ist der Lückenschluss allein der privaten
Initiative von Hans-Jörg Bahmüller aus Winnenden zu verdanken. Bahmüller
ist ein ruhiger und gelassener Mann im besten Rentenalter. Im Jahr des
Jakobus 2004 beschloss er als neue Lebensaufgabe, den Jakobsweg in
Württemberg zu rekonstruieren. Alle Kirchen, die Jakob geweiht waren,
viele Flur- und Straßennamen, die einen Jakob nannten, verband er auf
einer gedachten Line und wies dann auf vorhandenen Wanderwegen eine
Route aus. Er baute ein Netzwerk auf, kaufte etwa 4000 blaue Schilder
mit der gelben Muschel drauf und schraubte und klebte sie auf der mehr
als 200 Kilometer langen Strecke an Schilder, Bäume und auch an
Hauswände. »Wir haben immer geklingelt, und wenn keiner zu Hause war,
sind wir davon ausgegangen, dass der Hausbesitzer zustimmt«, sagt er
augenzwinkernd.
Unter der Autobahnbrücke der A 8 geht es weiter in
Richtung Oberensingen. Der Lärm der Autobahn sitzt mir wie ein Alb im
Nacken. Es sind nur noch 41 Kilometer nach Tübingen, das müsste in zehn
Stunden zu schaffen sein.
Ein
Albvereinsschild verkündet, man möge bei hohem Grundwasser vom
Pilgerweg abweichen und eine andere Route wählen. Weil Regen ja wohl
kein Grundwasser ist, stapfe ich voran. Der Weg führt in einen Sumpf,
der in ein Moor geht, das in ein Ried mündet, welches in einer
ziemlichen Patschelacke endet. Ich schlage mich durch Brombeeren. Bei
den Lindenhöfen wird das Wetter besser. Dort weiden glückliche Kühe mit
ihren Kälbern.
Etwa
300 Personen gehen diese schwäbische Route des Jakobsweges jährlich.
Ein Rinnsal, aus dem sich der große Fluss der Pilger speist, der sich
über die spanische Grenze ergießt. Die meisten Pilger auf dem
schwäbischen Jakobsweg sind Frauen; viele, so meint Hans-Jörg Bahmüller,
versuchten Depressionen oder einem schweren Schicksal zu entfliehen und
so im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine zu kommen. Etliche
Privatpersonen haben sich in den vergangenen sieben Jahren bereit
erklärt, Pilger aufzunehmen; in Frommenhausen bei Rottenburg gibt es
inzwischen wieder eine richtige Pilgerherberge.
Es gibt in
Deutschland mittlerweile drei Jakobusgesellschaften, die einen amtlichen
Pilgerausweis ausstellen. Als Wallfahrer mit Brief und Siegel gilt man,
wenn man die Wegstrecke zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Pferd
zurücklegt.
Hinter den grünen Tüchern der Buchen bei Unterensingen
ruht einer der größten römischen Gutshofe Württembergs, jetzt nur ein
paar Schutthügel. Das bleibt also von den Menschenwerken. Der Wald
lichtet sich, ein Acker liegt da wie eine offene Wunde, das ist der
Nürtinger Stadtteil Hardt. Berühmt wegen des Pfeifers von Hardt, der
einst Herzog Ulrich versteckte, weswegen die Bauern von Hardt über
Jahrhunderte keine Steuern zahlen mussten. Vielleicht gibt es deswegen
so erstaunlich wenige Gehwege im Flecken. Die Strecke senkt sich ins
Aichtal.
»Da nemlich ist Ulrich gegangen«, dichtete Friedrich
Hölderlin über den Herzog und den Winkel von Hardt, der zu meiner
Rechten liegt, ich muss herab zum Flüsschen Aich. Die Sonne lässt die
Bäume erblühen. Die Aich überquert man auf einer Holzbrücke mit einem
wackeligen Drehkreuz, das verhindern soll, dass Kompanien von Wanderern
sie zum Einsturz bringen.
Bald taucht die Neckartailfinger
Martinskirche auf mit dem berühmten schiefen Turm. Er hat sich nach
Westen geneigt, in meine Richtung, nach Spanien zu. Willst du mit? Die
Kirche bleibt im Dorf, und der Anstieg nach Schlaitdorf tut weh nach
einer so langen Strecke, selbst wenn er durch einen bezaubernden
Märchenwald führt.
In einer Schlaitdorfer Gastwirtschaft raste
ich, am Nebentisch vespern gemütlich die Wirtsleute, was mich
dummerweise zu einem Witz verleitet: "Wo eine Kirche ist, ist auch eine
Wirtschaft", sage ich keck. Der Wirt gießt mir ein Radler ein und
brummelt: "In Schlaitdorf gehen aber die Uhren anders." Doch das stimmt
nicht, denn die Turmuhr schlägt zuverlässig eins, als ich das zweite
Radler bestelle. Die Kloschüssel hält eine fette Kellerspinne besetzt,
ich vertage die Sitzung auf unbestimmte Zeit.
Nach der Mittagsrast
bin ich nicht ganz so blau wie der Himmel, der sich kurz zeigt. Nur
noch 25 Kilometer. Von Schlaitdorf kann man nach Altenriet blicken und
von Altenriet nach Schlaitdorf, eine Art Ansichtskarten-Pingpong, die
beide Dörfer auf ihren malerischen Hügeln spielen. Die drei Kaiserberge -
Stuifen, Staufen und Rechberg - sind in Sicht, bestimmt 70 Kilometer
Luftlinie. Wolken rollen über die Albgipfel und geben scheibchenweise
Aussichtslücken frei. Ein heftiger Anstieg folgt jetzt nach Kilometer
30, es ist der letzte schwere auf dieser Etappe und führt über Dörnach
und Rübgarten.
Am Ortseingang von Rübgarten raste ich in einer
feudal überdachten Bushaltestelle. Der Weg spult sich entlang der
Vorgärten ab. Hand in Hand arbeiten der Reiseführer Bahmüllers und die
Wegmarkierungen. Jetzt geht es zum Einsiedel, dem Jagdschlösschen des
Grafen Eberhard im Barte. Ich gehe in den Hof, um den Weißdorn zu
bewundern, den Eberhard einst aus dem Heiligen Lande brachte. Der Orkan
Lothar hatte ihn gefällt, doch ein Schößling des Bäumchens grünt noch.
Schilder erklären penetrant, dass die Wirtschaft zu und das Gelände
privat sei. Ich habe die Himmelsrichtung verloren und irre ein paar Mal
um das Gehöft, immer irgendwelchen blauen Schildern entlang. Das ist die
Müdigkeit.
Der Weg verläuft auf der Straße nach Pfrondorf, die
ein beliebter Schleichweg ist. Nur: die Autos schleichen nicht. »An
langen Wandertagen träumte er davon, ein Radarkasten zu sein«, denke
ich, dann würden die Autos nicht so rücksichtslos vorbeibrausen.
Beim
Joggen nennt man es den Flow, den Fluss, wenn die Gedanken weggedacht
sind und man nur noch Körper ist, der Schlaglöcher und die Steine fühlt,
der den Wind spürt und die Sonne auf der Haut, der Füße voreinander
setzt, während der liebe Gott die Kulissen der Landschaft vor den Augen
vorbeischiebt. Da hinten ist man gewesen, da vorne wird man sein.
Ich
erwache aus der Trance, als der Waldrand naht und ein Wolkenbruch
hernieder geht. Mein Schirm stemmt sich tapfer gegen den Sturm, die
Dornenranken reißen am Regencape, aber bald erreiche ich wie vom
Reiseführer versprochen die Waldklause Henne. In dem holzverkleideten
Beizle ist ein gutes Dutzend älterer Pfrondorfer ausgiebig damit
beschäftigt, sämtliche politischen Probleme des Landes dauerhaft zu
lösen, schade, dass Winfried Kretschmann nicht da ist. Die weißhaarige
Wirtin im Kittelschurz verkauft ein Bier und einen Kaffee für 3,60 Euro.
Ob ich einen Pilgerstempel wolle, fragt sie. Nein, danke.
Bald
habe ich es geschafft. Jetzt geht es ins Tal nach Bebenhausen, dem
kleinsten Stadtteil Tübingens. Von oben kommt es überflüssig flüssig.
Dann ragen die mächtigen Stämme des Schönbuchs auf, die Blätter halten
das meiste Nass ab. Die letzten acht Kilometer. Schade, dass keine Zeit
bleibt für das Kloster Bebenhausen, diese Ansammlung von gotischen
Dächern und Türmen. Die Anlage ist ganz im Mittelalterlichen geblieben,
Generationen von Klosterschülern haben sie mit Leben erfüllt.
Am
Gegenhang nach Tübingen hinauf hat sich eine Joggerin im Dickicht
untergestellt und singt aus Leibeskräften gegen den Regen an. Ich sinne
über die Steine nach, die halb behauen im Wald liegen. Waren sie Teile
von Gebäuden?
Fremd komme ich in Tübingen an. Wie aus einer
anderen Welt gehe ich mit Spaziergängern am Waldrand vorbei in Richtung
Stadtzentrum durch ein Tälchen, das zu Uhlands Zeiten noch Elysium hieß
und jetzt ziemlich unpoetisch Käsenbachtal. Dort schwelgten die Dichter
von Hölderlin bis Ottilie Wildermuth. Hier liegt der geografische
Mittelpunkt des Landes, ein konischer Stein bezeichnet ihn, aber Insider
wissen, dass es etlicher Berechnungen bedurfte, um den Stein
tatsächlich genau hierhin zu rechnen.
Die gelben Muscheln führen
in den ältesten Siedlungskern der Tübinger Altstadt, ins
Weingärtnerviertel, wo sich nur wenige Touristen hinverirren und wo die
beinahe romanische Jakobuskirche steht. Ihr schlichter Bau wirkt
gedrungen, weil das Kirchenschiff einst wegen des ständigen Hochwassers
zwei Meter aufgefüllt wurde. Hier gingen die ersten Jakobspilger auf den
Weg, hier hat man mittelalterliche Jakobsmuscheln gefunden, und hier
ist der Endpunkt meiner Tagesreise. Die Tür knarzt, das Schiff ist
dunkel. Ein Dutzend Menschen haben sich zu einer Art Gottesdienst
zusammengefunden, sitzen in der Apsis und schweigen. Ich setze mich
dazu. Ein Freund bat mich, für ihn zu beten. Die Ruhe ist wieder da, die
Dämmerung, das Kerzenlicht. Das Schweigen wird ab und zu durch
Orgelspiel durchbrochen.
Irgendwann wuchte ich die schmerzenden
Knie in die Höhe, es ist Nacht geworden. Ich schlage das Portal zu, am
rechten Türbogen leuchtet die gelbe Muschel auf. Mein lieber Jakobsweg,
vergiss es für heute. Am Bahnhof gibt's Döner.
Am nächsten Tag
sind die Waden steinhart und die Sehnen schmerzen. Ich will diesen Weg
nicht in Tübingen enden lassen, sondern dahinter. Der Route führt über
den Schlossberg hinauf zur Wurmlinger Kapelle und dort weiter nach
Rottenburg, dann in das Elsass hinein. Dahinter kommen die Pyrenäen und
nach 2200 Kilometern Pilgerweg Santiago de Compostela, danach der
Atlantik, Amerika, der Pazifik, Asien. Vor der Wurmlinger Kapelle kehre
ich um. Eines Tages werde ich weitergehen.
Wegbeschreibung der Etappe unter occa.de.
(13.11.2011)
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